Die Kreativität der Langsamkeit

Neuer Wohlstand durch Entschleunigung
// Fritz Reheis

Reheis gliedert das System, in dem wir leben, in drei unterschiedliche Teilsysteme. Wir als Individuum sind ein Teilsystem der Kultur/Gesellschaft, welches sich wiederum als Teilsystem der Natur platziert. Somit ist das Individuum das kleinste Teilsystem und die Natur das größte. Die Kultur/Gesellschaft sieht Reheis als Vermittler zwischen Natur und Mensch und differenziert dabei die Kultur als System, welches den Außenbezug zur Natur aufnimmt (Mensch-Natur-Verhältnis) und die Gesellschaft, welche den Innenbezug zum Menschen aufweist (Mensch-Mensch-Verhältnis).

Alle drei Teilsysteme sind nicht voneinander abgeschottet, sondern ganz im Gegenteil – sie rhythmisieren und beeinflussen einander von außen nach innen. Die älteren Systeme rhythmisieren die kleineren, sodass die Sonne Rhythmusgeber für die Natur ist, die Natur für die Kultur und die Kultur für das Individuum. Wichtig hierbei ist, dass nicht von einem einheitlichen Rhythmus gesprochen werden kann, sondern von individuellen Rhythmen, die durch Eigenzeiten innerhalb der Teilsysteme bestimmt werden. Und hier sieht Reheis schon das erste Problem der sozialen Beschleunigung: auch er spricht von einer Desynchronisierung, bei der die Eigenzeiten zu gering gehalten oder gar nicht gegeben werden. Durch das Auslassen der individuellen Erholungszeiten geraten die Systeme aus der Balance, sodass eine allgemeine Überforderung spürbar ist. Ein Beispiel hierfür ist der Raubbau der Natur, den die Menschen betreiben, bei der mehr abgebaut wird, als in der Zeit „nachwachsen“ kann. Aber auch das Individuum ist überfordert und ausgebrannt. Als Drahtzieher betitelt er eindeutig die Kultur und Gesellschaft. Sie sind das zentrale Problem für die Produktion im Überschuss bzw. die Produktion für die Produktion. Mit dieser Mentalität werden Rhythmen und Eigenzeiten missachtet und die Balance zerstört. Der in der Kultur/Gesellschaft im Mittelpunkt stehende Kapitalismus übt gewaltigen Druck auf das innere Teilsystem Individuum und das äußere Teilsystem Natur aus. Das Gleichgewicht wird gestört, die soziale Beschleunigung verstärkt.Ebenfalls wie Han und Rosa erkennt Reheis, dass die Produktionsgeschwindigkeit Maßstab für die Konkurrenz- und Wettbewerbsfähigkeit geworden ist. Wer unter dem Durchschnittstempo des Arbeitsaufwandes liegt, ist nicht konkurrenzfähig und somit wertlos für die Gesellschaft. Die Beschleunigung der Produktion wird zum „Gebot des Überlebens“.

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„Wenn das Geld die Welt regiert und wenn Geld Zeit ist,
dann ist das unerbittliche Zeitdiktat im Begriff,
eine totalitäre Herrschaft über die Welt zu errichten.“

In Hinblick auf den Begriff Zeit und Zeitempfinden behauptet Reheis, dass Zeit objektiv sei und aus lauter einzelner Zyklen bestehe (Geburt und Tod, Liebe und Hass etc.). Heute aber ist ein Bewusstseinswandel bemerkbar, sodass Individuen Zeit mittlerweile als etwas abstraktes, subjektives und lineares empfinden. Das rationale Empfinden bedingt sich durch die Erfindung der Uhr. Sie wurde besonders in der Industrialisierung zur Messlatte, die die Mentalität „Zeit ist Geld“ verbreitete. Die lineare Zeitordnung der Ökonomie beeinflusst und stört die Eigenzeiten, die Innere Uhr und den 24-Stunden Rhythmus des Individuums. Folgen dessen sind eine Entrhythmitisierung und das Gefühl einer starken Verdichtung der Zeit.

 

Was können wir nun gegen die andauernde Beschleunigung tun? 

Im Grunde genommen sieht Reheis eigentlich eine ganz simple Lösung: die Beschleunigung geschieht aufgrund des Tun und Handelns des Menschen, daher kann sie auch nur von ihm aufgehoben werden. Die individuellen Eigen-
zeiten von Natur, Kultur/Gesellschaft und Individuum müssen gewahrt werden. „Klug Haushalten“ ist hier das Stichwort. Neben dem „guten Leben“, in dem Menschenwürde gewahrt und Wohlstand und Macht gleichermaßen verteilt werden, sollen die Selbstentfaltung und die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit an der Spitze der Bedürfnis-Pyramide stehen. Wichtig ist hier das Mittelmaß zwischen Unter- und Überforderung (soziales Umfeld, auf Arbeit bezogen etc.), sodass eine stetige Balance vorhanden ist.

Neuer Wohlstand – das bedeutet ein sanfterer Konsumstil, vor allem durch höhere Energieeffizienz. Und es bedeutet, dass Zeit, die durch marktwirtschaftlich-kapitalistische Produktions- und Konsumsteigerungs-
programme geklaut wurde, zurückgegeben werden muss. Es handelt es sich um eine Gegenbewegung zur kapitalistischen Programmlogik, in der Zeitmaße für Individuen und Natur maßgebend sind.

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„Wer klug haushalten will, darf nicht
mehr ausgeben, als er einnimmt.“

Je komplexer ein System, desto länger sind dessen Eigenzeiten. Für uns bedeutet dies, dass die Natur bestimmend für alle anderen Teilsysteme sein muss. Zeitelastizitäten und Pufferkapazitäten müssen bewahrt werden. Wird dies nicht eingehalten, so wird schnell deutlich, dass je komplexer ein System, desto höher die Gefahr irreparabler Schäden ist. Die Zuständigkeit solcher Zeitmaße ist abhängig von der Weiträumigkeit der Systeme. Kleinere be-
nötigen kleinere Zuständigkeitskommunen als große. Die Natur, die die ganze Welt betrifft, muss demnach von einem weltweiten Zusammenschluss maßgeregelt werden, bspw. von der UNO. Eine weltweite Verfassungsordnung weist einen föderalistischen Charakter auf.

Für jedes einzelne Individuum bedeuten Neuer Wohlstand und festgelegte Zeitmaße Zeithygiene, welche

  1. eine Schadstoffentlastung,
  2. Reaktivierung der Inneren Uhr (Autorität der individuellen Eigenzeiten) und
  3. eine Ausbalancierung der psychischen Belastung

beinhalten.

Sie soll zur Vorbeugung der aktuellen Zivilisationskrankheiten dienen. Dabei muss eine optimale Passung von objektiven Anforderungen und subjektiven Ressourcen vorhanden sein.

Reheis schlägt für einen erfolgreichen Weg zur Entschleunigung auch Alternativmodelle auf, welche den Bestand der Kultur/Gesellschaft garantieren. Gleiche Chancen für alle sollen zur sozialen Anerkennung via Leistung führen. Die Zeitelastizität sieht er als Voraussetzung für die Entwicklung des freien Willens.

Zu den Alternativmodellen gehören:

        1. die Dualwirtschaft 
          Sie bedeutet eine Kombination aus Fremd- und Eigenarbeit. Viele Arbeitsschritte und -abläufe können außerhalb der Industrie absolviert werden und sollen lieber in Eigenarbeit umgewandelt, also nicht als Arbeit für andere gesehen werden, sondern als Erfolg und Erfüllung für sich selbst.

        2. die gerechte Marktwirtschaft
          Damit ist eine Tauschgerechtigkeit gemeint, in der das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung ausgewogen ist. Im Detail zählt Reheis ein Einkommen ohne Ausbeutung, Geld ohne Zinsen und ein Markt ohne Kapital auf.

        3. die demokratische Planwirtschaft
          Zu dieser Alternative gehört das Rätemodell, einer Art wirtschaftliche Behörde, welche die Bedürfnisse der Menschen erfasst und sich vor einem politischen Rat verantworten muss (bspw. Bahn, Post, Schulen, Krankenhäuser etc.).

 

Was also tun? 

Zu zentralen Aspekten ernennt Reheis die Zeithygiene, ein klares Zeitmanagement und der bewusste Umgang und Ausschluss von Reizen. All diese Maßnahmen erzielen eine deutlichere Fokussierung und Positionierung des Indi-
viduums innerhalb der Gesellschaft und verhelfen ihm zu einem strukturierten, ausgeglichen, besinnlichen und entschleunigten Leben. Dabei werden die Momente der Zeitlosigkeit, die der Mensch benötigt, nicht zu kurz kommen.

Auch eine allgemeine Zeitpolitik soll ins Leben gerufen werden, die den Schutz von Eigenzeiten gewährleisten soll. Durch Begünstigungen (Zahlung von Zuschüssen), Erschwerungen (Auferlegung finanzieller Lasten), Gebote und Pflichten soll gesetzlich Einfluss auf folgende Aspekte genommen werden:

  1. Bewahrung der Nachhaltigkeit in der Natur
  2. Bewahrung der Gesundheit beim Menschen
  3. Bewahrung der Gerechtigkeit in Kultur/Gesellschaft

Alternativ wird der Vorschlag einer allgemeinen Grundsicherung kommuniziert. Bei freiwilligem Verzicht eines Erwerbsarbeitsplatzes wird der Wettbewerb um Arbeitsplätze entschärft und die Bezieher der Grundsicherung werden zu Pionieren der Neuen Wohlstandes, denn die Reichen fallen durch ihren Konsum und ihr Freizeitverhalten der Erde zu Last.

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„Eine entschleunigte Gesellschaft ist eine Gesellschaft,
in der nicht das Haben von Sachen, sondern das Sein der Menschen
im Mittelpunkt stehen wird. Alles wird sich um ihr Wohlbefinden,
um die Entfaltung und Erfüllung ihrer Möglichkeiten drehen.
Und das ist der Kern des menschlichen Glücks.“

 

  1. S. 82
  2. S. 155
  3. S. 207