// Octavio Paz
Auszüge aus folgenden Kapiteln:
// Einleitung – Dichtung und Gedicht
// Das Gedicht – Die Sprache
// Das Gedicht – Der Rhythmus
// Das Gedicht – Vers und Prosa
// Das Gedicht – Das Bild
// Dichtung und Geschichte – Die Weihe des Augenblicks
Dichtung ist eine geistige Methode zur inneren Befreiung. Sie enthüllt die Welt, schafft aber auch eine andere. Sie ist gelenkt vom Unbewusstsein, von Gefühlen, Intuition und umgesteuertem Denken. Bilder, Farben, Rhythmen und Visionen formen Gedichte zu einer einzigartigen Komposition, welche Wörter, Zusammenhänge und Sinn in Bildern verwandelt. Daher gilt Dichtung als bedeutungsvolles Ausdrucksmittel. Mit ihr einher geht eine hohe Kommunikationsfähigkeit.
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„Das Gedicht ist keine literarische Form,
sondern der Ort der Begegnung zwischen
der Dichtung und dem Menschen.“
Während in der psychologischen und philosophischen Sprache ein eingeschränktes Vokabular herrscht, so lässt die Dichtung zu, sich reich an dichterischen Ausdrücken und Bildern zu bedienen. Das Gedicht ist Sprache in Gestalt und lässt eine große Vielfalt an Darstellungen, Beschreibungen und Empfindungen zu. Der Dichter schafft etwas und der Leser erschafft es neu.
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„Die passiven Zustände sind keineswegs nur Erfahrungen des Schweigens
und der Leere, sondern auch die positiver und erfüllter Augenblicke:
aus der Mitte des Seins sprudeln Bilder hervor.“
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„Wir schweigen nicht, […] weil wir nichts zu sagen haben,
sondern weil wir nicht wissen, wie wir all das sagen sollen,
was wir gern sagen möchten.“
Entspannungszustände des Bewusstseins befördern die Kreativität und den Fluss von Bildern. Sie erzeugen Harmonie und Einklang und befördern, dass das Sein seines Selbst und das Sein der Welt eins werden. Weiter geht Paz auf die Bedeutung des Schweigens ein. Er sagt deutlich, dass Schweigen immer eine Sprache enthält und implizite Kommunikation ist. Grundsätzlich lässt sich Zusammenfassen, dass Langeweile, Ruhepausen und Stummheit durchweg positiv und als eine Möglichkeit dargestellt werden.
Außerdem geht Paz auf den Rhythmus ein. Gedichte rufen Bilder hervor, basieren auf einem Komplex von Sätzen und halten eine verbale Ordnung ein, welche wiederum auf Rhythmus gründen. Rhythmus ist Sinn und sagt „etwas“ und er bewirkt Erwartungen, weil er eine Richtung vorgibt. Seinem Denken freien Lauf zu gewähren beschreibt Paz als Zurückkehren zum ursprünglichen Rhythmus, welcher nicht von äußeren Umständen bestimmt wird. Analogie ist Sprache des Dichters und gleichzeitig auch Rhythmus.
Das Gedicht ist eine Ausdrucksform des Dichters, in dem er seine Sicht und Erfahrungen der Welt mit seinen eigenen Worten erläutert. Er erzeugt Bilder, die Unsagbares wiedergeben und ihre eigene Logik enthalten, die nur innerhalb seiner eigenen Welt an Gültigkeit haben. Der Sinn des Gedichts ist das Gedicht selbst, welches die Sprache überschreitet, denn „dichterische Erfahrung lässt sich nicht auf das Wort zurückführen, und dennoch drückt nur das Wort sie aus“. 4
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„Sinn des Bildes hingegen ist das Bild selbst: es kann nicht
mit anderen Worten gesagt werden. Das Bild erklärt sich selbst.
Nichts außer ihm kann sagen, was es sagen will. Sinn und Bild
sind dasselbe. Ein Gedicht hat nicht mehr Sinn als seine Bilder.“
Der festgelegte Moment im Gedicht wird zwei mal erlebt: zum einen im Augenblick des Verfassens selbst und zum anderen beim Lesen, indem der Leser den Moment neu erlebt. „Der Leser erschafft den Augenblick wieder und erschafft sich selbst“. 6 Er ereignet sich von neuem und rutscht aus der Vergangenheit erneut in die Gegenwart. Das Lesen des Gedichts ist zwar eine Wiederholung der Erfahrung des Dichters, dennoch ist sie nicht identisch und ist daher von Wert.
Zudem ist das Gedicht losgelöst von Zeitabläufen und narrativer Kontinuität. Es ist ein Fragment der Gegenwart, welches im Hier und Jetzt positioniert ist und voller Gegenwärtigkeit ist.