Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit
// Hartmut Rosa
Was genau wird in der modernen Gesellschaft eigentlich beschleunigt? Zeit ist ein konstanter Faktor, welcher nicht beschleunigt werden kann, auch wenn viele das anders empfinden. Lediglich das Tempo alltäglicher Handlungen wird beeinflusst, beispielsweise die Geschwindigkeit des Lebens, der Geschichte, der Kultur, des politischen Lebens und der Gesellschaft.
Laut Rosa gibt es drei Kategorien der Beschleunigung, die nicht einheitlich als allgemeine soziale Beschleunigung bezeichnet werden dürfen: die Beschleunigung der Technik, des sozialen Wandels und des Lebenstempos. Hierbei handelt es sich um unterschiedliche Prozesse mit unterschiedlichen Tempi, die eine Differenzierung benötigen.
Die Prozesse der Veränderungen sind nicht einheitlich, sondern eine Reihe unverbundener Phänomene der Beschleunigung.
Mittlerweile ist eine internationale Steigerung der Geschwindigkeit zielgerechter Transport-, Kommunikations-
und Produktionsprozesse präsent, welche sich auf die technische Beschleunigung beruht. Dadurch werden die Wahrnehmung und Organisation von Raum und Zeit im sozialen Leben verändert. Zeit wird komprimiert oder vernichtet sogar den Raum. Er verliert in vielen Hinsichten an Bedeutung für unsere Orientierung, denn Abläufe
und Prozesse sind nicht länger lokalisiert. Das Internet bietet dafür ein passendes Beispiel.
Der beschleunigte soziale Wandel verursacht instabile und kurzlebige Strukturen, die sich in Einstellungen und Werten, Mode und Lebensstil, sozialen Beziehungen und Verpflichtungen, Gruppen, Klassen und Milieus, sozialen Sprachen und Gewohnheiten niederschlagen. Die Stabilität von gegenwärtigen Situationen wird immer kurz-
weiliger. Damit verbunden ist die „Schrumpfung der Gegenwart“, so Rosa, in der Erfahrungsraum (Vergangenheit) und Erwartungshorizont (Zukunft) zusammenfallen.
Die Beschleunigung unseres Lebenstempos ist durch deutliche Zeitknappheit bemerkbar. Wir möchten immer mehr Sachen in kürzerer Zeit tun und erleben. Dadurch verdichten sich die Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit. Subjektiv gesehen fühlen sich Individuen in der Erfahrung der Zeit gehemmt, sehen Zeit als eine knappe Ressource und fühlen sich immer häufiger gestresst, unter Zeitdruck und denken, sie kommen nicht mehr mit. Durch die starke Ver-
dichtung ist es dazu gekommen, dass viele Handlungen gleichzeitig absolviert und per Multitasking komprimiert werden – ein Phänomen, welches sich in der spätmodernen Zeit entwickelt hat. Eigentlich sollte die technische Beschleunigung uns Zeit im Überfluss geben und zu einer Entschleunigung führen. Dennoch sind die Wachstums-
raten höher als die der Beschleunigung, weshalb uns die Zeit trotz Technik immer knapper vorkommt. Die moderne Gesellschaft hat sich somit zu einer Beschleunigungsgesellschaft entwickelt.
Zu den sozialen Ursachen des Beschleunigungs-Phänomens ordnet Rosa eindeutig das Wettbewerbsprinzip zu und schließt Technik als Ursache konsequent aus. In unserem wettbewerbsorientierten kapitalistischen Marktsystem definiert sich Leistung als Arbeit pro Zeiteinheit, wodurch Zeitersparnisse zu Wettbewerbsvorteilen führen und die Beschleunigung vorantreiben. Durch die Investition von immer mehr Energie entwickelt sich eine „Müdigkeits-
gesellschaft“, die durch Konkurrenzdenken geprägt ist. Die sogenannte „Ellbogenmentalität“ ist mittlerweile in allen gesellschaftlichen Sphären aufzufinden und beschränkt sich schon lange nicht mehr nur auf die Arbeit.
Auf kultureller Ebene gesehen offenbart die Welt so viele Angebote, die das Individuum in seiner Lebensdauer nicht alle erleben und wahrnehmen kann. Das Leben genießen – das ist der Leitgedanke der heutigen Zeit. Dennoch assoziieren viele mit dieser Aussage, auch möglichst viel zu erleben – sowohl Positives als auch Negatives – und nutzen die Beschleunigung als Strategie.
Sowohl die technische Beschleunigung, als auch die des sozialen Wandels und die des Lebenstempos bedingen sich und schließen sich zu einem Beschleunigungszirkel unserer heutigen Gesellschaft zusammen. Soziale Prozesse werden erst ermöglicht, dann erfordert. Der beschleunigte soziale Wandel beschleunigt unser Lebenstempo, weswegen neue Techniken notwendig werden, um die Zeit in Prozessen zu kompensieren. Darauf folgend beein-
flusst die Technik wiederum unseren sozialen Wandel etc. Der Beschleunigungszirkel wird zu einem geschlossenen, sich selbst antreibenden System.
Depression ist demnach eine Ausstiegsreaktion auf den Beschleunigungsdruck und der ständigen Dynamik, der man ausgesetzt ist. Erstarrung bzw. Stillstand sind die schlimmste Erfahrung einer Beschleunigungsgesellschaft.Die Beschleunigung nimmt eine neue Form des Totalitarismus ein, denn:
- sie übt Druck auf den Willen und die Handlungen der Subjekte aus,
- man kann ihr nicht entgehen, somit herrscht eine Unausweichlichkeit, von der alle Subjekte betroffen sind,
- sie durchdringt alle Lebensbereiche und ist nicht nur auf Gesellschaftsspähren begrenzt,
- es ist schwierig, sie zu bekämpfen bzw. das Problem einfach zu lösen.
Die zeitlichen Normen, denen wir permanent ausgesetzt sind, sind zu dominierenden Normen der modernen Gesellschaft geworden, welche nicht angezweifelt und als „Naturgesetze“ betrachtet werden. Obwohl es einem freigestellt ist, sie zu erfüllen oder nicht, empfinden wir den Zwang, dem Tempo der Gesellschaft standzuhalten
und mitzuhetzen. Edward T. Hall spricht von der „Stummen Sprache der Zeit“.
Problematisch an solchen Situationen ist – und das ist vorherrschend – wenn sich zwei Prozesse mit unterschied-
lichen individuellen Tempi verzahnen (müssen). Das langsamere Element gerät unter enormen Zeitdruck und wird von dem dominierenden schnelleren Element mitgerissen. Bei Verweigerung oder Blockade kommt es zu einem Funktionshemmnis, sodass der gesamte Prozess gehemmt wird. Auf lange Zeit gesehen werden langsame Elemente der Gesellschaft ausgeschlossen und geraten so ins „soziale Aus“, da sie nicht mithalten können bzw. wollen. In solchen Fällen spricht man von einer „Desynchronisierung“. Zeitformen gewinnen an totalitärem Charakter.
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„Wer wir jetzt sind und wie wir uns fühlen, ist abhängig
von den Zusammenhängen, in denen wir uns bewegen.“
Zu den Konsequenzen der sozialen Beschleunigung zählt Rosa
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- die Entfremdung vom Raum
Das Selbst-Welt-Verhältnis wird gestört, also die Art und Weise, wie ein Subjekt sich in der Welt gestellt sieht. Außerdem ermöglicht die soziale Beschleunigung eine erhöhte räumliche Mobilität und eine Herauslösung aus dem physischen räum, sodass sich das Subjekt von der räumlichen und materiellen Umgebung distanziert. - die Entfremdung von den Dingen
Dinge werden nicht zum Teil unseres Selbst und bleiben fremd, da sie weggeschmissen oder ausgetauscht werden, bevor sie individualisiert werden können. - die Entfremdung von der Zeit
Das moderne Leben ist erlebnisreich, aber erfahrungsarm, indem das Individuum daran scheitert, die erlebte Zeit zu „seiner“ Zeit zu machen. - die Entfremdung gegenüber den eigenen Handlungen
Das Subjekt investiert Zeit in Dinge, die es gar nicht tun möchte, da die Zeit fehlt, um interessenorientierten Handlungen nachzugehen. - die Selbstentfremdung
Die Kluft zwischen dem Individuum und Räumen, Zeiten, Handlungen, Erlebnissen, Werkzeugen und Produkten unseres Lebens wird immer größer. Ein eigenes Selbstgefühl und die Identität kommen nicht zu Stande. - die soziale Entfremdung
Die Übersättigung an vielen sozialen Kontakten führt zur Oberflächlichkeit, wodurch tiefgründige Bindungen verloren gehen oder gar nicht erst entstehen. Zudem ist der Aufbau einer Beziehung zu zeitaufwändig.
- die Entfremdung vom Raum
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In Rosas Schlussbetrachtung beschreibt er, dass die Versuche, alle Gestalten der Entfremdung politisch und kulturell zu überwinden, zu totalitären Formen in der Philosophie, der Kultur, der Politik und zu autoritären Persönlichkeitsstrukturen führen. Die Zeitstrukturen sind der Kern der Problematik einer Welt, in der die Selbst-Welt-Wahrnehmung zur Entfremdung führt.