Langweilen Sie sich?

Eine kurzweilige Psychologie der Langeweile
// Maria T. Kern

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„Wer sich langweilt […] weiß nichts mit sich und der Welt anzufangen.

Das Wort „Langeweile“ findet seinen Ursprung in den Begriffen „lang“ und „Weile“ und tauchte im 16. Jahrhundert das erste mal als eigenständigen Begriff auf. Die „Weile“ wird hier mit den Synonymen Ruhe, Rast und Pause assoziiert. Der Wandel vom damaligen positiven Zeiterleben zu unserer heutigen negativen Komponente der Ungeduld, des Verlangens und der Sehnsucht zeigt die enorme Veränderung des subjektiv erlebten Zustandes des Langweilens. Das Problem kennt jeder – Langeweile ist allgegenwärtig. Wer keine Zeit hat signalisiert seiner Um-
welt, wie wichtig und unentbehrlich er ist, daher kann tatsächlich von einem Problem gesprochen werden, wenn man sie hat. Niemand verbindet mit Langeweile etwas positives, ganz im Gegenteil – es ist ein Zustand, dem alle entgehen möchten. Das Warten wird als Handlungshemmung und Zeitvergeudung wahrgenommen, eine erzwungenen Passivität, in der wir eigentlich produktiv sein könnten.

 

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Warum gibt es Langeweile auch heute noch? 

Laut Kern ist sie ein Bestandteil der Lebensweise des 20. Jahrhunderts und beschreibt sie als Plage, da sie viele Menschen belastet (vgl. S. 23). Die neue, moderne Langeweile entsteht durch Rationalisierung und Verwissen-
schaftlichung der Welt. Zum einen verschuldet Kern dies der Geldwirtschaft, welche die vormodernen, Sinn vermittelnden (christliche) Werte verdrängt, zum anderen dem emotionalen Leben, welches von Leere und Rastlosigkeit geprägt wird und letztendlich der Wohlstands-Mittelklasse, die aus dem Kapitalismus gewachsen
ist und sich innerhalb dieser alles ausschließlich um den Konsum dreht.

 

Was sind die Auslöser für Langeweile?

Zum einen wird Langeweile durch den Faktor der Belastung ausgelöst, also dem äußeren Einfluss auf den Menschen. Relevant ist auch die Beanspruchung, also die Auswirkung der Belastung. Beides muss im Gleich-
gewicht stehen, ansonsten fühlt sich ein Individuum gelangweilt.

Jeder ist beispielsweise auf der Arbeit einer Belastung in Form von Arbeitsaufgaben ausgesetzt. Die Belastung kann hoch sein, solange die Beanspruchung auf demselben Level liegt. Dies würde in diesem Beispiel bedeuten, dass wir zwar viel arbeiten müssten, jedoch die Arbeit uns nicht stresst und wir mit dem Arbeitsumfang zurechtkommen. Das gleiche gilt auch für eine geringe Belastung und folglich auch einer geringen Beanspruchung. Erst ein Un-
gleichgewicht beider Faktoren löst beim Individuum Langeweile aus.

Allgemein ist bekannt, dass der Mensch auf (innere und äußere) Reize reagiert. Auch diese sind entscheidende Auslöser. Sobald eine Armut oder eine Überreizung an Stimuli dominiert, d.h. bei Unter- und Überforderung, fühlt sich der Mensch gelangweilt. Balance und Ausgeglichenheit sind maßgebend für das Wohlbefinden.

Langeweile ist eine relative und subjektive empfundene Aus- bzw. Erfüllung eines spezifischen Zeitraums. Es ist tatsächlich schwierig, eine allgemeingültige Definition über das Eintreten der Langeweile festzumachen. Das subjektive Empfinden ist ein entscheidender Faktor, wann tatsächlich Langeweile verspürt wird und ist daher von Person zu Person unterschiedlich.

 

Die Zeit und der Sinn

Zeit ist die objektive Dauer, Ordnung und Richtung des Geschehens, ein Nacheinander von Prozessen. Wir erleben Zeit subjektiv und haben eine persönliche Haltung zu Veränderungen und Lebensgefühlen. Nur Sinnwerte treiben uns an, sodass die Zeit vergeht. Wenn wir ein Ziel vor Augen haben, vergeht die Zeit wie im Flug, da uns das Ziel antreibt. Haben wir kein Ziel, müssen wir uns selbst in Bewegung setzen, damit das Warten verkürzt wird. Sobald wir erstarren, schießt die Zeit an uns vorbei und das Unendlichkeitsgefühl dehnt sich aus.

 

Wie erleben wir Zeit?

    1. qualitativ
      Das Individuum kann Zeiträume daraufhin beurteilen, ob er sie als angenehm, ausgefüllt etc. wahrnimmt oder als unangenehm, leer, zu knapp oder lang etc.
    2. emotional
      Ist das Individuum glücklich, vergeht die subjektive Zeitwahrnehmung deutlich schneller als wenn es verzweifelt, angsterfüllt, krank oder genervt ist.

    3. linear/zyklisch
      Besonders die westliche Welt, in der wir leben, nimmt die Zeit als linearen Zeitstrang wahr, auf dem Zeitpunkte kontinuierlich verstreichen und sich nicht wiederholen. Es ist ein Schwirren von Handlungspunkt zu Handlungspunkt, sodass im besten Fall wenig bis gar keine Lücken auf dem Zeitstrang zu sehen sind. In traditionellen Gesellschaften und auch in der Natur gibt es aber eine regelmäßige Wiederkehr von natürlichen Ereignissen, wie bspw. Tag und Nacht, Ebbe und Flut und die vier Jahreszeiten. Es handelt sich um Wiederholungen, aber nicht um eine exakte Wiederkehr.
       
      Diese Diskrepanz macht sich zwischen der Lebenszeit (zyklisch) und der Weltzeit (linear) deutlich bemerkbar. Die Langeweile oder auch „Leere im Leben“ findet sich laut Kern ausschließlich in der linearen Weltzeit durch ständige Rastlosigkeit wieder.

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„Der Mensch erlebt nicht Zeit an sich,
sondern soziale, umweltbedingte, zergliederte Zeit
als Zeitbahn bzw. Zeitstrecke.

 

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„Langeweile ist ein subjektiver, durch Person oder Situation verursachter habitueller (überdauernder) oder aktueller Zustand mit motivationalen/aktivationalen, kognitiven, emotionalen  und sozialen Komponenten, der mit einem Konflikt bzw. einer Ist-Soll-Diskrepanz und einem verlangsamten Zeitfluss zusammenhängt.

 

Zwei Arten von Langeweile

      1. Trait-Langeweile
        Bei diesem Typ handelt es sich um eine chronische Art der Langeweile, welche fester Bestandteil des Charakters und Wesens und daher genetisch festgelegt ist. Menschen dieser Art machen sich durch ihre resignative Form bemerkbar, die in der Grundstimmung/-haltung der Person verankert ist.
      2. State-Langeweile
        Diese Form tritt situativ und gelegentlich auf und wird durch äußere Einflüsse (hier: Reize) ausgelöst. Im Gegensatz zur Trait-Langeweile ist sie eine oberflächliche Form der Langeweile, da sie nicht in Bezug zur eigenen Persönlichkeit steht. Behoben werden kann die Art von Zustand mit äußeren Reizen, die zur Ablenkung dienen, aber leider nur die Symptome bewältigen und nicht die Ursache. Durch den Gewohnheitseffekt von den immer gleichen, sich wiederholenden Reizen (bspw. andauerndes Fernsehschauen) ist in der Bekämpfung nicht immer ein dauerhafter Erfolg vernehmbar, das Individuum stumpft gegen diese Art von Reiz nach und nach ab.

     

 
Personentypen bezüglich Langeweile

Abhängig von den individuellen Persönlichkeitsaspekten lassen sich drei Arten von Personentypen festmachen und auf welche Weise sie für Langeweile sensibilisiert sind.

    1. Typ I positive Reaktion auf aktivierende Reize
      Oft lassen sich hierzu Charaktere zuordnen, welche Aufgaben, Herausforderungen oder Wünsche aus Eigenmotivation und innerem Verlangen angehen. Sie stellen sich Situationen und haben Spaß und Elan, Dinge erfolgreich abzuschließen. In der Regel kommt bei Ihnen kaum Langeweile auf.
    2. Typ II passive Reaktion auf unbewusste Reize
      Zu dieser Kategorie gehören Individuen, die sich einfachen Reizen nicht bewusst sind, aber unterbewusst von diesen gelenkt werden. Sie zeichnen sich häufig durch konsumorientierte, materielle und teilweise auch oberflächliche Reize wie bspw. Lob durch Anerkennung, Erfolg im Beruf, sozialer Status oder eine vorzeigbare, trendbasierte Urlaubsreise aus.

    3. Typ III keine Reaktion auf Reize
      Wenn Individuen auf keinerlei Reize reagiert, sei es positive oder negative, sind sie psychisch krank und/oder chronisch depressiv.

 
 

Langeweile – eine positive Seite?

Viele suchen Ablenkung von langweilen Momenten in ihrem Leben und füllen diese Zeit mit kurzweiligen, manchmal auch unbeliebten Aktivitäten wie Putzen, Sport oder schnellem Konsum. Diese Ablenk-Reaktion verbirgt Sucht-
gefahr, sofern sie immer als „Ersatz-Aktivität“ verwendet wird. Wird die für viele angesehene Problematik ständig durch alternative Aktivitäten verdrängt, kann sich ein Suchtverhalten entwickeln. Auch das neumoderne Sensation-Seeking gewinnt immer mehr an Präsenz in der Gesellschaft.

Langeweile ist keine (Basis-)Emotion, wird aber beispielsweise von Angst und Ärger ausgelöst,
begleitet oder verfolgt werden.

Die negative Konnotation des Begriffs ist in unserem sozialen Leben fest verankert, dennoch kann Langeweile zu etwas Positivem werden. So wie der Schlaf als Höhepunkt der körperlichen Entspannung gilt, ist die Langeweile der Höhepunkt der geistigen. Die verspürte Leere kann als Chance zur Neuordnung, zur Erkennung der Wirklichkeit und Besinnung genutzt werden, damit neue Kräfte geschöpft werden können. Meditation und Entspannung sind nur zwei Arten, Langeweile für sich zu nutzen. Ebenfalls kann sie für geistige Klarheit, Beschränkung aufs Wesentliche und Kontemplation bzw. Innehalten sorgen. So entwicklen sich positive Konnotationen wie Muße und schöpferisches Warten.

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„Besitzt ein Mensch nicht die Fähigkeit,
Langeweile zu langer Weile zu machen,
weiß er weder mit sich, den Dingen und
anderen Menschen etwas anzufangen,
wird ihm viel Zeit zu toter Zeit.

 

Wer langweilt sich mehr?

Wie schon bei den zwei Arten der Langeweile beschrieben, wird die Langeweile-Neigung durch den genetischen Pool als Persönlichkeitsmerkmal bereits festgelegt (Trait). Dazu wurde das „Big Five“, ein Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit erstellt, das sich aus folgenden fünf Punkten definiert:

    1. emotionale Stabilität
      Ausgeglichenheit, Gelassenheit, Mut o.ä. vs. Angst, Reizbarkeit, Befangenheit o.ä.
    2. Extraversion
      Herzlichkeit, Geselligkeit und das Bedürfnis nach Aktivitäten stehen beim Individuum im Vordergrund.

    3. Offenheit für Erfahrungen
      Gefühle, Handlungen und Werte werden klar kommuniziert.

    4. Verträglichkeit
      Wichtige Faktoren sind hier der soziale Umgang, das Vertrauen anderen gegenüber oder die altruistische Neigung.

    5. Gewissenhaftigkeit
      Sie definiert sich durch Kompetenz, Leistungsstreben etc.

 
Je „stärker“ die Persönlichkeit durch das positive Erfüllen aller fünf Punkte ist, desto weniger Langeweile wird verspürt.

Nicht außer Acht gelassen werden dürfen die allgemeinen habituellen Leistungsvoraussetzungen. Sie definieren, wie das Individuum mit einzelnen Situationen umgeht, wie er zu der Sache/Aufgabe steht und mit ihnen umgeht.

Zu den bestimmenden Faktoren gehören:

    1. Wissen
    2. körperliche Fähigkeit
    3. Intelligenz
    4. Erfahrung

 
Sie bestimmen die Schemakomplexität jedes einzelnen. Um das Schema besser zu erklären, hier ein Beispiel: Ein Fußball-Experte mit viel Wissen über Technik und Pässen, jahrelanger Erfahrung als bspw. Kommentator, welcher als Kind möglicherweise dem Sport als Hobby nachgegangen ist, ist um einiges begeisterungsfähiger und inte-
ressierter an einem WM-Fußballspiel als ein Laie mit geringerem Wissen und wenig Erfahrungen über Fußball.
Der Laie langweilt sich beim Zuschauen aus dem einfachen Grund, weil er nicht das Auge für Details und Technik hat oder sie wohlmöglich auch gar nicht versteht. Hat er zudem auch einfach keine Lust den Sport zu verstehen, also ist die Grundeinstellung bereits negativ, ist die Tendenz zur Langeweile noch höher.

 

Die wichtigsten Einflüsse für Langeweile

    1. Alter und Entwicklung
    2. Intelligenz und Bildung

 
Punkte a und b zählen zweifelsfrei zu den maßgeblichen Bedingungen schlechthin. Mit dem Alter und der Entwicklung wachsen Erfahrungswerte, die uns helfen, Situationen und uns selbst besser einschätzen zu können. Dies geht mit Intelligenz und Bildung einher, welche uns über Jahre hinweg darin trainieren, besser zu reflektieren.

Laut Kern langweilen sich wenig Gebildete häufiger als Intelligente. Auch der IQ-Wert ist von Bedeutung – sowohl über- als auch unterdurchschnittliche Werte bedeuten negative Einflüsse auf die Langeweile. Hier wird die tragende Rolle von Über- und Unterforderung nochmals deutlich. Ähnlich ist es mit negativen Emotionen, Unzufriedenheit und Frustration. Sie alle fördern die Langeweile-Neigung durch Ungleichgewicht von Belastung und Bean-
spruchung.

Weitere relevante Faktoren sind:

    • Einsamkeit/sozialer Stress
    • Fremdbestimmung
    • negative Einstellung einer Sache gegenüber

 
Die Geschlechterfrage nimmt in Kerns Auflistung keine bedeutende Rolle ein, dennoch erwähnt sie, dass sich Männer im Schnitt häufiger langweilen als Frauen. Oft wird dieser Zustand ausgelöst durch monotone Arbeit, da der Mann genetisch ein höheres Verlangen nach Action und Abwechslung mit sich bringe. Er sei autonomer und habe eine höhere Selbstmotivation, daher benötige er im Vergleich zu Frauen mehr Stimulation und Varietät.

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„Langeweile ist als Zustand durch unser
eigenes Aktivationsniveau und das Anregungspotenzial
von außen bestimmt.

 

Wie entsteht situative Langeweile?

Für uns sind sowohl interne als auch externe Stimulationen entscheidend. Das Anregungspotenzial basiert auf kollektiven Reizen und zeichnet sich durch Neuigkeit, Ungewissheit, Komplexität und Überraschungsgehalt aus. Diese wirken auf uns und „locken uns aus der Reserve“. Genauso ist es mit den aktivationswirksamen Reizen – affektive, starke äußere Reize und Bedürfniszustände treiben uns an und regen uns zum Handeln an. Sind sowohl die kollektiven, als auch die aktivationswirksamen Reize sehr gering gehalten oder kaum gegeben, verspüren wir Langeweile. Allerdings dürfen sie auch nicht zu hoch sein. Die spezifische Exploration reduziert zu starke Reize, die diverse Exploration hingegen sucht Abwechslung und Unterhaltung. Wir streben ein mittleres Niveau, einen Wohlfühl-Zustand an, in dem die Balance gegeben sein muss (siehe Unter-/Überforderung).

Ein Leben kann äußerst abwechslungsreich, aber dennoch langweilig sein, wenn vieles vorhersehbar ist.

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„Wenn wir der Langeweile und Monotonie
entfliehen wollen, reagieren wir im
günstigsten Fall mit Neugier.

 

Wahrnehmung durch multisensorische/-modale Reize

      1. sensorische Reize
        Auge
        Ohr
        Tastsinn
        Geruchssinn
        Geschmacksinn
      2. informatorische Reize
        verbal
        nonverbal
        symbolhaft
        bildlich
      3. soziale Reize
        Bindung
        Gesellung
        sozialer Status

 

  1. S. 9
  2. Zitate von Beschreibungen, S.12
  3.  S. 34
  4.  S. 36
  5. Drews, S. 70
  6. S. 114
  7. S. 116