Müdigkeitsgesellschaft

// Byung-Chul Han

Jedes Zeitalter hat seine Leitkrankheiten. Im 21. Jahrhundert sind es vor allem neuronale Erkrankungen, die sich beispielsweise durch Depression, ADHS, Borderline und Burnout definieren und einen immer größeren Zuwachs an Erkrankten erfahren. Han beschreibt diese Krankheiten als Infarkte, die durch ein Übermaß an Positivität bedingt sind. Die damalige Disziplinargesellschaft, welche von Verboten und Zwängen dominiert wurde, weicht seit dem 21. Jahrhundert der heutigen Leistungsgesellschaft.

Möglichkeiten des Könnens und Wollens offenbaren sich, sodass Projekte, Arbeit und weitere Handlungen aus Initiative und einer inneren Motivation heraus geschehen. Die Zeit wird somit immer ärmer an Negativität. Während „Andersheit“ damals durch eine (Immun-)Reaktion bekämpft wurde, wird sie heute toleriert, da sie nicht als fremd bzw. etwas Negatives erkannt wird. Es handelt sich um eine Gewalt der Positivität, zu denen Überproduktion, Überkommunikation und Überleistung gehören – also ein „zuviel“ von allem Positiven. Han stellt hier deutlich heraus, dass die Gewalt durchaus vom Gleichen kommen kann und nicht unbedingt vom Anderen oder Fremden. Genau dies stellt eine große Gefahr dar. Sie wirkt saturativ und exhaustiv auf das Individuum und ist in unmittelbarer Wahrnehmung unzugänglich. Besonders die Depression ist die Erkrankung einer Gesellschaft, die unter dem Übermaß an Positivität leidet. Sie ist der Ausdruck des Scheiterns, sich selbst zu werden.

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„Wer vom Gleichen lebt,
kommt durch das Gleiche um.“

Das Übermaß an Positivität bedeutet unter anderem auch ein Übermaß an Reizen, Informationen und Impulsen, wodurch unsere Aufmerksamkeit und Wahrnehmung zerstreut wird. Wir können nicht mehr selektieren und sind dadurch überfordert. Der Verlust des kontemplativen Vermögens, also einem konzentrierten Betrachten ungegen-
ständlicher Objekte, ist laut Han für die Hysterie und Nervosität der modernen Aktivgesellschaft mitverantwortlich. Die geistige Versenkung durch lange, langsame Blicke und einer tiefen Aufmerksamkeit geht verloren. Wir müssen lernen, Reizen Widerstand leisten zu können, denn der Verlust einer Impulskontrolle ist das erste Symptom für eine Erschöpfung. Sie wirkt für eine allgemeine Zerstreuung in der Gesellschaft.

In der heutigen Leistungsgesellschaft wird der Mensch zur Leistungsmaschine. Der permanente Exzess der Leistungssteigerung führt zum Infarkt der Seele, sodass es zu extremer Müdigkeit, Erschöpfung und schlimmeren kommen kann. Bei völligem Ausgebranntsein besteht die Lebendigkeit des Menschen nur noch aus Vitalfunktionen und -leistungen. Die Erschöpfungsmüdigkeit der Gesellschaft, welche aus positiver Potenz wirkt, macht unfähig etwas zu tun. Sie wirkt auf das Individuum isolierend und zerstört somit die Gemeinschaft.

Byung-Chul Han begründet die Beschleunigung des sozialen Wandels ausschließlich auf das Ablösen der Diszi-
plinargesellschaft durch unserer heutige Leistungsgesellschaft, in der Negativität und Kontemplation verloren gegangen sind.

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„Krank macht in Wirklichkeit nicht das Übermaß an Verantwortung
und Initiative, sondern der Imperativ der Leistung als neues Gebot
der spätmodernen Arbeitsgesellschaft.“

 

 

  1. Jean Baudrillard, Die Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene,
    Berlin 1992, S. 75
  2. S. 23