// Bernd Alois Zimmermann
// Karlheinz Stockhausen
// Earle Brown
// John Cage
// Bernd Alois Zimmermann
deutscher Komponist
* 1918 † 1970
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„Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind, wie wir wissen, lediglich an ihrer Erscheinung als kosmische Zeit an den Vorgang der Sukzession gebunden. In unserer geistigen Wirklichkeit existiert diese Sukzession jedoch nicht, was eine realere Wirklichkeit besitzt als die uns wohlvertraute Uhr, die ja im Grunde nichts anderes anzeigt, als dass es keine Gegenwart im strengeren Sinne gibt. Die Zeit biegt sich zu einer Kugelgestalt zusammen. Aus dieser Vorstellung […] habe ich meine […] pluralistische Kompositionstechnik entwickelt, die der Vielschichtigkeit unserer Wirklichkeit Rechnung trägt.“
In seinen Werken werden zeitliche Geschehen auf verschiedenen Ebenen in einem Moment erlebbar. Das Zimmermann zugeordnete pluralistische Kompositionsverfahren beruht auf Überlagerungen mehrerer Metren und Rhythmen, sodass eine Schachtelform unterschiedlicher Zeitebenen entsteht. Auf verschiedenen Tonband-
spuren werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft festgemacht, in Zimmermanns Kompositionen fallen die drei Ebenen jedoch zusammen. Er definiert die Linearität der Zeit in seinen Werken als eine sich zusammenbiegende Kugel. 2
Sein letztes Werk, Requiem für einen jungen Dichter, wird geprägt durch die Montage von Sprach-/ und Tonauf-
nahmen und klassischer Live-Musik eines Orchesters. Diese Sprach- und Klangcollagen aus elektronischen Klängen und Linguaren (Sprachstücke) zitieren Dichter wie Sergej Jessenin, Wladimir Majakowskij und Konrad Bayer, aber auch Politikerreden, Berichte und Liturgien, welche bedeutend für Zeitepoche nach dem zweiten Weltkrieg waren. Diese Schnittsrukturen verschiedener Medien machen sein Werk so besonders. 3 Die Einheit von Raum und Zeit wird zerstört, Handlungsstränge verlaufen parallel. 4
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„Es ist die vornehmste Pflicht eines Musikers, die Musik seiner
eigenen Zeit zu spielen. Das ist so einfach, dass ich gar nicht
kapiere wie jemand anderer Meinung sein kann.“
// Karlheinz Stockhausen
deutscher Komponist
* 1928 † 2007
Die Partitur zu Refrain zeigt, inwiefern Stockhausen die Linearität im klassischen Notensystem durch eine zyklische Anordnung auflöst. Innerhalb einer vorgegeben Komposition ist jedem der drei beteiligten Spieler selbst über-
lassen, an welcher Stelle er sich durch das autonome und spontane Spielen des Refrain in die Gesamtkomposition einbringt. Dadurch variiert jedes Konzert und wird einzigartig. Stockhausen legt nicht fest, zu welchen Zeitpunkten diese Klangpassage von welchen Spielern wiedergegeben wird. Die unvorhergesehenen „Störungen“ lösen eine individuelle Dynamik aus, jeder beeinflusst und prägt den anderen, ohne miteinander zu konkurrieren oder Disharmonie auszulösen.6
Dem Pianisten ist es in dem Werk Klavierstück XI freigestellt, in welcher Reihenfolge er die einzelnen Musik-
passagen abspielt. Auch hier setzt Stockhausen den Fokus aus Spontanität und Varietät. Aufgrund der Methodik eines Baukastensystems durch die Fragmentierung ist das Klavierstück in allen denkbaren Variationen spielbar und wird dadurch in jeder individuellen Ausführung einzigartig. Angelehnt an die Aleatorik spricht Stockhausen selbst bei der Art und Weise der Komposition von einer vieldeutigen Form. Innerhalb der Fragmente ist die Linearität vorhanden, in der Gesamtkomposition wird sie aber aufgelöst. 7
// Earle Brown
US-amerikanischer Komponist
* 1926 † 2002
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„I made the filling and the form is open to whoever conducts it
at that moment. So I once said to myself:
‚Is it more important to fill a form or to form a filling?‘“
Die offene Form in seinen Partituren gilt als Charakteristika der Early Music – einem Earle Brown zugewiesenem, eigenen und individuellen Musikstil und -system, welches u.a. in Anlehnung an das gelernte Schillinger-System ausgezeichnet wird. Ähnlich wie bei Stockhausen kreiert Brown eine Art Baukastensystem. Musikalische Passagen sind dabei fest und wiederholen sich, dennoch ergeben sie immer eine neuartige Komposition – je nachdem, wer und in welcher Abfolge sie gespielt werden.
Bei seinem Stück December 1952 liegt das Ermessen ganz beim Spieler und nicht beim Komponisten. Zumal bietet die Partitur den Freiraum, das Notenblatt im 90°-Winkel zu drehen. Somit hat der Spieler vier unterschiedliche Möglichkeiten mit dem Spielen der Partitur zu beginnen. Auf herkömmliche Notenlinien und Noten wird vollends verzichtet. Lediglich durch waagerechte und senkrechte Balken von unterschiedlicher Länge und Breite wird die Komposition wiedergegeben – oder durch den Weißraum – das liegt im Auge des Betrachters. Der Performer muss die Partitur interpretieren und die grafische Informationsebene in Musik umwandeln. Das Ergebnis basiert aus-
schließlich auf subjektivem Empfinden und Bewusstsein des einzelnen Spielers. Offen gelassen wird auch, von wie vielen Instrumenten das Werk gleichzeitig gespielt werden kann.
Browns Arbeit gilt als Meilenstein seiner Zeit in der Grafischen Notation und offenbart einen enorm großen Interpretationsspielraum, sodass der Stellenwert der Subjektivität an erster Stelle steht. Die Linearität ist hier vollkommen aufgebrochen.9
// John Cage
US-amerikanischer Komponist
* 1912 † 1992
Für die Performance seines Werkes Imaginary Landscape No. 4 werden zwölf Radios und 24 Spieler benötigt. Dabei müssen jeweils zwei Spieler ein Radio nach der vorgegebenen Partitur bedienen – ein Spieler ist für das Einstellen der Frequenz verantwortlich, der andere für die Klangfarbe und die Lautstärke.
Abhängig von den zum Zeitpunkt der Aufführung gesendeten Radioprogrammen, ist das Klangresultat der Partitur in ihrer Ausführung dem Zufall unterworfen. Jede Aufführung wird zu einem Unikat. Cage gibt zwar eine feste Form von Lautstärken und Einsetzen der einzelnen Radios durch die Niederschrift der Partitur an, dennoch sind die Inhalte durch das zufällige Einwählen in bestimmte Radiofrequenzen jedes Mal unterschiedlich. Und auch, welche Musik gerade abgespielt wird, ist nicht vorhersehbar. Durch seine Methode entstehen durchweg einzigartige Gesamtkompositionen. 10
Die Partitur der Komposition Fontana Mix besteht aus insgesamt 20 unterschiedlichen transparenten Seiten. Zehn davon bilden jeweils verschiedenen Formationen sechs grafischer Linien ab, auf zehn anderen sind Punkte in freier Anordnung zu sehen. Sie ist nicht feststehend, da die einzelnen Blätter (1x Linie und 1x Punkte) frei miteinander kombiniert werden können und dadurch stetig variieren. Legt man nun die beiden unterschiedlichen Seiten über-
einander und überlagert sie mit einem Raster aus 20×100 Kästchen, so muss ein Punkt innerhalb des Rasters mit einem außerhalb verbunden werden. Die Kästchen, an denen die nun gezogene Linie das Raster durchschneidet, markieren Anfangs- und Endpunkt eines Zeitrahmens. Die Schnittmenge der Linie mit den sechs Kurven bestimmen sechs Parameter, die vom Musiker subjektiv und frei zugeordnet werden können. Auf diese Art und Weise ergeben sich unzählige frei interpretierbare Partituren, bei denen der Musiker das Stück mitbestimmen und so die Auto-
nomie des Komponisten aufheben kann.11 12
- https://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Alois_Zimmermann#cite_note-3
- vgl. Dokumentation; SWR; Bernd Alois Zimmermann – Requiem für einen jungen Dichter
- vgl. Dokumentation; SWR; Bernd Alois Zimmermann – Requiem für einen jungen Dichter
- vgl. https://de.schott-music.com/shop/autoren/bernd-alois-zimmermann
- Dokumentation; SWR; Bernd Alois Zimmermann – Requiem für einen jungen Dichter; 00:23:39
- vgl. https://www.universaledition.com/de/komponisten-und-werke/karlheinz-stockhausen-698/werke/refrain-4365
- vgl. http://stockhausenspace.blogspot.de/2015/06/klavierstuck-xi.html
- Dokumentation; Art Engine; Video Portrait of Earle Brown; 00:16:03
- vgl. https://www.dramonline.org/albums/earle-brown-selected-works-1952-1965/notes
- vgl. http://radioartnet.net/11/2011/08/03/imaginary-landscape-no-4/
- vgl. http://johncage.org/pp/John-Cage-Work-Detail.cfm?work_ID=79
- vgl. http://www.cage100.com/deutsch/projekte/performances/fontana-mix.html