// Susan Sontag
Auszüge aus folgenden Kapiteln:
// In Platos Höhle
// Objekte der Melancholie
// Der Heroismus des Sehens
// Die Bilderwelt
1
„Durch Fotografien wird die Welt zu einer Aneinanderreihung
beziehungsloser freischwebender Partikel […].“
Das fotografische Auge ist mittlerweile unersättlich geworden. Durch die Masse an Fotografien, die in den letzten Jahrzehnten entstanden ist, hat sich eine eigene „Ethik des Sehens“ 2 entwickelt. Die Möglichkeit und das Gefühl, alles in der Welt mit der Kamera einfangen zu können, führt zu der Ansicht, parallel auch alles im Gedächtnis abspeichern zu können. Die Kamera dient als Hilfsmittel, tatsächliche Erfahrungen in einer Fotografie abzubilden und festzuhalten. Das produzierte Standbild wird dadurch von einem Bild zum Objekt (der Erinnerung). Fotografien beschreibt Sontag als „Miniaturen der Realität“3, welche einen schmalen Ausschnitt von Raum und Zeit beinhalten. Texte hingegen lassen immer Interpretationsansätze offen. Fotos werden demnach zu Beweismitteln, da sie Situa-
tionen und Momente in ihrer Abbildung bestätigen und Dinge dadurch glaubwürdig machen. Denn das Ereignis hat somit tatsächlich in der Art und Weise stattgefunden. Auch wenn die Kamera Dinge verzerrt, so gleichen die Foto-
grafien ihrem Abbild. Sie sind eine Annäherung an die Wirklichkeit und machen Augenblicke realistisch nachvoll-
ziehbar. Ebenfalls ermöglichen sie eine Beziehung zur Vergangenheit, denn ihr dokumentarischer Charakter lässt die Spuren der Zeit nachvollziehbar und sichtbar machen.
Fotografieren bedeutet aber auch, sich den Erfahrungen im Leben zu verweigern. Sie werden in ein Abbild ge-
zwungen, die Suche nach einem Fotomotiv steht im Mittelpunkt und die Kamera gewinnt an Allgegenwärtigkeit. Sie ist immer griffbereit, wodurch viele der Verlockung nicht widerstehen können, interessante Ereignisse fotografisch festzuhalten. Doch was ist interessant? Diese Bewertung wird von der Ideologie geleitet, in der wir leben. Die Aus-
weitung des Erfahrungshorizontes erfolgt mittels Fotografie. Erfahrungen machen wird identisch mit Fotos machen, denn der „Drang nach neuen Erfahrungen wird übersetzt in den Drang zum Fotografieren.“ 4
5
„Die Fotografie ist zur kennzeichnendsten Kunstform
der rastlosen Überfluss- und Wegwerfgesellschaft geworden […].“
Der Vorteil der Fotografien sind, dass Dinge und Menschen nebeneinander gestellt werden können, die wenig später aber bereits wieder getrennt sind. Sie werden als gegenwärtig dargestellt, stellen Zusammenhänge dar und ermöglichen dem Betrachter ein einheitliches, stimmiges Bild, obwohl dies möglicherweise gar nicht der Fall war. Fotografien dienen zudem als Zitate, welche gesammelt werden, um die Realität zu bündeln, und eine Narration – eine Geschichte zu erzählen. Die verloren geglaubte Vergangenheit wird durch diese Methode wieder in die Gegen-
wart gebracht und erneut gelebt, gedacht und gefühlt. Das Standfoto ermöglicht dem Betrachter, so viel Zeit wie möglich in den Moment zu investieren, was bei Bewegtbildern durch vorgegebene Schnitte etc. nicht der Fall ist. Viele Fotos haben einen zufälligen Charakter und sind der Beweis dafür, dass alles vergänglich ist. Mit der Möglich-
keit, in seinen festgehaltenen Erinnerungen zu kramen, kann genau an diese Augenblicke zurückerinnert werden. Die Welt wird ins Foto reingeholt, sodass die Distanz zur Außenwelt aufgehoben wird.
6
„Im Leben geht es nicht um bedeutsame Details –
einmal kurz belichtet und für immer festgehalten.
Auf Fotografien geht es um nichts anderes.“
Die Kamera als Weltverschönerer zeigt viele idealisierte Bilder und legt den Fokus auf die schönen Dinge. Doch wie wir alle wissen, ist Schönheit relativ. Das fotografische Sehen kann demnach nicht unpersönlich und objektiv bleiben, es steht immer unter dem Einfluss der Subjektivität. Daher können Fotos auch nicht einfach die bloße Realität zeigen, sondern sie spiegeln immer wieder, wie einem die Dinge erscheinen. Und genau das zeigt sich in jedem einzelnen Foto jedes Fotografen. Die Wahrheit in den Bildern kann nur in mehrere relative Wahrheiten unterschieden werden.
7
„[…] unsere Epoche ziehe das Bild dem Ding vor,
die Kopie dem Original, die Darstellung der Realität,
die Erscheinung dem Sein […].“